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ANTARES – Mit digitalen Medien gegen das Rauchen

Ausgangslage und Ziele

Nikotin wird oftmals als die „unterschätzte Droge“ bezeichnet, da es bezüglich Prävention und Therapie vergleichsweise wenig Beachtung gewinnt. Obwohl nahezu alle Raucher von den mittel- und langfristigen gesundheitlichen Gefahren des Rauchens wissen, rauchen in Deutschland immer noch mehr als ein Viertel der Bevölkerung (Batra et al., 2015).

Die automatische Tendenz, sich Suchtreizen anzunähern (engl. „approach bias“, Annäherungsverzerrung) spielt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen. Die Veränderung dieser Annäherungsverzerrung ist in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Wirksamkeitsforschung gerückt (Übersicht siehe Kakoschke et al., 2017).

Auf Grundlage der Befunde sind innovative Interventionsmöglichkeiten entwickelt worden, die gezielt eine Modifikation der Annäherungsverzerrung versuchen. So sollen die einseitige Verarbeitung von Suchtreizen reduziert, Wahrnehmungsprozesse und Aufmerksamkeit auf eine Vielzahl von Reizen in der Umwelt gelenkt und stärkere exekutive Kontrollmöglichkeiten, z.B. bewusstes Abwenden von der Substanz, ermöglicht werden. Eine wichtige Anwendung stellt dabei der Approach-Avoidance-Task (AAT) dar (Rinck & Becker, 2007). Während des AAT werden verschiedene Bilder (z.B. suchtassoziierte Reize wie eine Zigarette) präsentiert – mit der Aufgabe, den „Sucht-Bildinhalt“ zu ignorieren, die Aufmerksamkeit auf andere Faktoren zu lenken (z. B. farbige Umrandung) und durch Drücken/Ziehen eines Joysticks, was das Vergrößern, bzw. Verkleinern des Bildes zur Folge hat, zu reagieren. Es wird vermutet, dass diese motorische Aktivität bei gleichzeitiger bewusster Weglenkung der Aufmerksamkeit von Suchtreizen hin zu anderen Reizen und dem Vergrößern, bzw. Verkleinern des Bildinhalts eine Modifikation der Annäherungsverzerrung bewirkt, da unter anderem Suchtreize bewusst ausgeblendet werden müssen und somit die selektive Verarbeitung dieser Reize langfristig reduziert wird. Aktuelle Studien zeigen wiederholt, dass durch ein AAT-Training automatisierte Handlungen und Verarbeitungen, die als zentral für den Suchtprozess gelten, signifikant reduziert werden können (z. B. Wiers et al., 2015, Überschicht siehe Kakoschke et al., 2017).

Um den AAT im Präventionsbereich in größeren Populationen einzusetzen und durch die Nutzung innovativer Technologien die Wirksamkeit des AAT zu erhöhen, wurden eine VR- sowie eine Smartphone-Anwendung entwickelt und evaluiert. Diese sollen die bisherigen vielversprechenden Forschungen und Therapieansätze ergänzen und unterstützen.
 

Konzept und Umsetzung

Die Immersion von virtuellen Welten ist im Vergleich zu herkömmlicher Technologie deutlich höher. Nutzer*innen können mittels VR vollständig (visuell, auditiv, motorisch) in eine andere Welt „eintauchen“. Studien zeigen, dass durch Embodiment die Wirksamkeit der Interaktion erhöht werden kann (Schultze, 2010). Daher ist anzunehmen, dass sich durch den Einsatz von VR die Intention zur Nutzung positiv beeinflussen und eine langfristige wirksame Veränderung der Annäherungsverzerrung herstellen lässt.

Um dies herauszufinden wurden virtuelle Umgebungen modelliert, welche realen Orten gleichen, an welchen häufig Zigaretten konsumiert werden (z. B. ein Büro oder eine Bar). Hierdurch soll die Übertragung des Gelernten in den Alltag verbessert werden. Innerhalb der virtuellen Umgebung wurden die Teilnehmer*innen mit dreidimensionalen Objekten konfrontiert, welche rauch-bezogen oder neutral sind. Dabei wurden sie angewiesen, nicht auf die Reize, sondern auf ein bestimmtes Unterscheidungsmerkmal zu achten. Im Falle einer blauen Umrandung sollte das Objekt eingesammelt und in einen Behälter vor den Teilnehmenden abgelegt werden. Im Falle einer roten Umrandung sollte das Objekt weggeworfen werden. Im Anschluss wurde ein Fragebogen ausgefüllt, welcher unter Anderem das aktuelle Konsumverhalten und die Einstellung zum Rauchen abfragte.

Neben der virtuellen Realität sollen im Rahmen des Projekts auch die Möglichkeiten mobiler Technologien in Form von Smartphone-Anwendungen genutzt werden, da Apps großes Potenzial haben, Patienten und Patientinnen während ihrer Therapie zu unterstützen. Die wesentlichen Vorteile einer Smartphone-App bestehen in der weiten Verbreitung von Smartphones und somit ihrer hohen Akzeptanz. Dies ermöglicht ein dauerhaftes und kontinuierliches Training von überall. Für diesen Zweck wurde die Smartphone-App „Antares Mobile“ (Android und iOS) entwickelt. Bei dieser müssen die Nutzer*innen mit einer Wisch-Geste auf die präsentierten Reize reagieren: Nach links gekippte Bilder müssen herangewischt und nach rechts rotierte Bilder weggewischt werden, wobei die Bilder, wie bei der Joystick-Variante, vergrößert oder verkleinert werden. Darüber hinaus verfügt die App über einen integrierten Zigarettenzähler, damit das Rauchverhalten jederzeit dokumentiert und ausgewertet werden kann.
 

Evaluation

Die VR-Stichprobenstudie wurde in Form einer randomisierten kontrollierten Studie durchgeführt. Neben der Trainingsgruppe, welche den VR-AAT wie oben beschrieben durchführte, gab es noch eine Placebo-Kontrollgruppe, welche die Objekte zufällig nach links oder rechts schieben sollte. Messungen des objektiven und subjektiven Rauchverhaltens wurden vor Beginn des Trainings, nach der letzten Sitzung sowie nach sieben Wochen durchgeführt. Zu Beginn erhielten alle Teilnehmer eine Psychoedukation sowie das Buch „Endlich Rauchfrei!“ von Allen Carr. Anschließend sollten innerhalb von zwei Wochen sechs VR-Trainingseinheiten durchgeführt werden. 96 Teilnehmer*innen (47 in der Trainingsgruppe, 49 in der Kontrollgruppe) haben das VR-AAT-Training durchgeführt, wovon 84 zur Post-Messung und 67 zum Follow-Up nach 7 Wochen erschienen sind.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Annäherungsverzerrung nicht signifikant reduziert werden konnte. Jedoch haben die Teilnehmer*innen ihren Konsum durchschnittlich um die Hälfte reduziert und einen gesünderen Lebensstil angenommen. Hierbei schnitt die Trainingsgruppe gegenüber der Kontrollgruppe besser ab. Etwa 20 % waren nach sieben Wochen (noch immer) rauchfrei. Die Evaluation der mobilen Anwendung läuft zum Zeitpunkt dieses Artikels noch. Auch diese wird in Form einer randomisierten kontrollierten Studie durchgeführt, im Vergleich zur VR-Studie jedoch mit einer zusätzlichen Wartegruppe. Diese erhält die Psychoedukation, das Buch sowie den Zigarettenzähler, das Training wird jedoch innerhalb der App deaktiviert.
 

Kooperationspartner

Das Projekt ANTARES (Laufzeit 2018-2021, BMBF 005-1706-0006) ist ein Forschungsvorhaben eines interdisziplinär zusammengesetzten Teams. Die wissenschaftlichen Akteure der Universität Siegen sind der Lehrstuhl für klinische Psychologie (Univ.-Prof. Dr. Tim Klucken), die Professur für Medizinische Informatik und Mikrosystementwurf (Univ.-Prof. Dr. Rainer Brück), der Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und das Center for Responsible Innovation & Design (Univ.-Prof. Dr. Dr. Björn Niehaves, Katharina Jahn). Assoziierter Partner ist die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kreisklinikums Siegen (Dr. med. Heiko Ullrich).
 

Referenzen

A. Batra, E. Hoch, K. Mann, K. Petersen. „S3-Leitlinie Screening, Diagnose und Behandlung des schädlichen und abhängigen Tabakkonsums“, Springer, Berlin, Heidelberg (2015).

T.J. Eiler, A. Grünewald, R. Brück. „Fighting Substance Dependency Combining AAT Therapy and Virtual Reality with Game Design Elements”, In: Proceedings of the 14th International Joint Conference on Computer Vision, Imaging and Computer Graphics Theory and Applications – Volume 2: HUCAPP (2019).

T.J. Eiler, A. Grünewald, A. Machulska, T. Klucken, K. Jahn, B. Niehaves, Carl F. Gethmann, R. Brück. „A Preliminary Evaluation of Transferring the Approach Avoidance Task into Virtual Reality”, In: Pietka, E., Badura, P., Kawa, J., Wieclawek, W. (eds.) Information Technology in Biomedicine, Advances in Intelligent Systems and Computing, vol. 1011, pp. 151-163. Springer International Publishing, Cham (2019).

T.J. Eiler, A. Grünewald, M. Wahl, R. Brück. „AAT meets Virtual Reality“, In: A.P. Cláudio et al. (eds.) VISIGRAPP 2019, CCIS 1182, pp. 153–176, Springer International Publishing (2020).

T.J. Eiler, T. Forneberg, A. Grünewald, A. Machulska, T. Klucken, K. Jahn, B. Niehaves, Carl F. Gethmann, R. Brück. „One ‚Stop Smoking‘ to Take Away, please! A Preliminary Evaluation of an AAT Mobile App”, In: Pietka, E., Badura, P., Kawa, J., Wieclawek, W. (eds.) Information Technology in Biomedicine, Advances in Intelligent Systems and Computing, vol. 1086. Springer International Publishing, Cham (2021).

T.J. Eiler, B. Haßler, A. Grünewald, A. Machulska, T. Klucken, K. Jahn, B. Niehaves, Carl F. Gethmann, R. Brück. „Swipe up to smoke less cigarettes! Introducing a mobile Approach-Avoidance Task Application to fight Smoking”, Proceedings of the 2020 Annual Meeting of the German Society of Biomedical Engineering (accepted).

K. Jahn, H. Kempt, T.J. Eiler, O. Heger, A. Grünewald, A. Machulska, T. Klucken, R. Brück, Carl F. Gethmann, B. Niehaves. „More than Ticking Off a Checklist? Towards an Approach for Quantifying the Effectiveness of Responsible Innovation in the Design Process”, 15. Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik (WI 2019), Workshop Proceedings EMoWI’20, Potsdam, Germany (accepted).

N. Kakoschke, E. Kemps, M. Tiggemann. „Approach bias modification training and consumption: A review of the literature“, Addict. Behav. 64, 21–28 (2017).

A. Machulska, K. Kleinke, T.J. Eiler, A. Grünewald, R. Brück, K. Jahn, B. Niehaves, C.F. Gethmann, T. Klucken. „Retraining automatic action tendencies for smoking using mobile phone-based approach-avoidance bias training: A study protocol for a randomized controlled study“, In: Trials, vol. 20, no. 720 (2019).

A. Machulska, T.J. Eiler, A. Grünewald, R. Brück, K. Jahn, B. Niehaves, C.F. Gethmann, T. Klucken. „Promoting smoking abstinence in smokers willing to quit smoking through Virtual Reality-Approach Bias Retraining: A study protocol for a randomized controlled trial“, In: Trials, vol. 21, no. 227 (2020).

M. Rinck, E.S. Becker. „Approach and avoidance in fear of spiders“, J. Behav. Ther. Exp. Psychiatry 38, 105–120 (2007)

U. Schultze „Embodiment and presence in virtual worlds: A Review“, Journal of IT, 25, 434–449 (2010).

R. W. Wiers, S. R. Boelema, K. Nikolaou, T. E. Gladwin „On the Development of Implicit and Control Processes in Relation to Substance Use in Adolescence“, Curr. Addict. Rep., 2, 141-155 (2015)

 

Abbildungen

Kontaktdaten:

https://www.antares.fokos.de

Projektleitung:
Univ.-Prof. Dr. Tim Klucken
Abteilung für Klinische Psychologie
E-Mail: tim.klucken@psychologie.uni-siegen.de
Telefon: +49(0) 271 740-4106

Verantwortlich für Anwendungen:
Tanja Joan Eiler, M.Sc.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Professur für Medizinische Informatik und Mikrosystementwurf
E-Mail: tanja.eiler@uni-siegen.de
Telefon: +49(0) 271 740-3455