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Virtual-Reality-Exkursionen in der geographischen Bildung – Studierende als Designer*innen von 360-Grad-Lernumgebungen

Projekthintergrund

Digitalisierung als disruptive gesellschaftliche Entwicklung hat das Potential, (geographisches) Lernen maßgeblich zu verändern: Denn Technologien wie Virtual Reality eröffnen immersive, körpernahe und emotionale Raumerfahrungen, die das eigene Identitätskonstrukt beeinflussen sowie Einstellungen und Handlungspraktiken in der Realität verändern können. VR stellt damit eine sehr machtvolle Form des geographischen Visualisierens dar – insbesondere dann, wenn VR-Umgebungen nicht nur rezipiert, sondern von Lernenden selbst produziert werden. Es ist daher notwendig, einen achtsamen Umgang mit VR in Hochschullehre und Schule zu implementieren. Im Folgenden wird ein didaktisches Konzept zum Designen von VR-Umgebungen und eine 360-Grad-Lernumgebung vorgestellt, welches an der Universität Potsdam ausgehend von dem Ansatz eines lernerzentrierten, konstruktivistischen Lernparadigmas entwickelt wurde und bei Studierenden Kompetenzen im Umgang mit VR entwickeln soll.
 

Didaktisches Konzept

Grundlage des Projekts war eine im SoSe18 durchgeführte Exkursion nach Wien, bei der 11 Studierende die Stadt Wien nach dem Prinzip der Spurensuche (verändert nach HARD) unter den Konzepten ‚smart city‘, ‚green city‘ und/oder ‚resilient city‘ untersuchten. Mit der Lehrveranstaltung wurde das fachliche Ziel verfolgt, das Studierende ein reflektiertes Wissen zu verschiedenen Diskursen um zukunftsfähige bzw. nachhaltige Stadtentwicklung erwerben. Aus geographiedidaktischer Perspektive wiederum ging es um eine Förderung von Kernkompetenzen einer Bildung für nachhaltigen Entwicklung, speziell im Bereich des nachhaltigen Entwicklungsziels 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ sowie um die Entwicklung einer fachspezifischen Medienkompetenz (digital literacy) in Bezug auf virtuelle Lernumgebungen. Das Lehrveranstaltungskonzept wurde u.a. auf Grundlage von kognitionswissenschaftlichen Studien zu VR sowie geographischen Forschungen zu Raum und Wahrnehmungen entwickelt.

Die Studierenden nahmen zunächst die Rolle von Forscher*innen ein, die ausgehend von einer selbstgewählten Forschungsfrage einer „Spur“ zu ihrem Forschungsthema folgten, Daten erhoben, (Expert*innen)Interviews führten und Hintergrundinformationen recherchierten. Aus dieser Rolle der fachlich-didaktisch Forschenden wechselten die Studierenden schließlich in die Rolle von Designenden und erstellten mithilfe von 360-Grad-Fotographie und -Videographie sogenannte „VR-Exkursionen“, die mit einfachen VR-Smartphone-Brillen als OER für geographisches Lernen genutzt werden können. Abbildung 1 zeigt den Aufbau der Exkursion und der angegliederten Evaluationsforschung.
 

Dieser Übergang wurde durch verschiedene didaktische Impulse und Übungen begleitet, unter anderem durch spezielle Reflexionsübungen, reflexives Tagebuchschreiben, peer-review oder Gruppendiskussionen. Eine besondere Rolle spielte dabei die eigene Körperwahrnehmung, die während der Exkursion immer wieder reflektiert wurde. Einerseits ist die eigene Körperwahrnehmung ein wesentlicher Aspekt der geographischen Raumerfahrung und beeinflusst maßgeblich, wie wir Räume (seien sie „real“ oder virtuell) wahrnehmen und konstruieren. Im Bereich der geographischen Bildung ist dies in den Kompetenzbereichen „Räumliche Orientierung“ (Bildungsstandards Geographie) fest verankert. Andererseits führt die immersive Eigenschaft der VR dazu, dass Anwender*innen sich mit ihrem Körper in Bezug zu der sie umgebenden virtuellen Welt setzen. Forschungsergebnisse aus der Psychologie und den Kognitionswissenschaften zeigen, dass dieses ‚in das Bild eingebettet sein‘ deutlich emotionales Erleben, Lernen und Gedächtnis beeinflussen. So wirken sich die verschiedenen Körpererfahrungen in immersiven Lernumgebungen auf Einstellung und Verhalten in der ‚wirklichen‘ Welt aus und regen Verhaltensänderungen an. Es war daher wichtig, sowohl während des Forschens vor Ort als auch während der Designphase die affektive, körperbezogene Komponente zu berücksichtigen.  Als Resultat integrierten die Studierenden selbstständig Elemente der Körperwahrnehmung in ihre VR-Exkursionen, ob bei der Auswahl der Orte für die VR-Exkursion oder bei der Darstellung von Perspektiven wie beispielsweise die Diskussion verschiedenartiger Wahrnehmung von Stadtteilen in der Rolle als Fußgänger*in (vom Automobilverkehr verdrängt versus raumeinnehmend).

Die VR-Umgebungen sind dabei so gestaltet, dass die Anwender*innen verschiedenen geographischen Fragestellungen im Themenfeld einer zukunftsfähigen Stadtentwicklung nachgehen können, sich z. B. Meinungen verschiedener Akteure zur Einrichtung einer Begegnungszone anhören und für sich kritisch bewerten können. Ziel ist die Entwicklung von Reflexions- und Bewertungskompetenz (im Sinne des Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung), die zu einer geographischen Handlungskompetenz (auch im Sinne des nachhaltigen Entwicklungsziels 11 Nachhaltige Städte und Gemeinden) führen soll.
 

Die VR-Exkursionen

Technische Grundlage der VR-Exkursionen sind 360-Grad-Videos und -Fotos, die mit verschiedenen zusätzlichen Inhalten angereichert werden. So kann über Blickfokussierung nicht nur von einer 360-Grad-Umgebung zur nächsten navigiert werden, sondern auch über Hot-Spots Zusatzinformationen eingeblendet, Interviews abgespielt oder Videos betrachtet werden. Abbildung 2 zeigt eine Szene aus dem aktuellen Prototyp: Hier sollen Anwender*innen unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte der Nachhaltigkeit entscheiden, mit welchem Verkehrsmittel sie sich durch die Stadt Wien bewegen wollen.

Übergeordnete Zielsetzung

Angelehnt an neue Ansätze der Gesellschaft-Umwelt-Forschung (z.B. neue Humanökologie, Achtsamkeit) soll unsere Forschung diskutieren, wie virtuelle Lernumgebungen zum geographischen Vermitteln genutzt und wie achtsame fachlich-didaktische Konzepte zur geographischen Kompetenzförderung mittels VR gestaltet sein können. Das übergeordnetes Erkenntnisinteresse liegt dabei darin, das Medium VR für geographische Bildung zu reflektieren, theoretisch einzuordnen sowie empirisch zu erforschen.
 

Weitere Informationen

Projektvorstellung:
https://www.uni-potsdam.de/de/umwelt/forschung/ag-didaktik-der-geographie/forschungsprojekte/projektverzeichnis/virtual-reality-exkursionen-im-geographiestudium.html

Vortrag bei der Tagung „Medien – Wissen – Bildung: Augmentierte und virtuelle Wirklichkeiten“ in Innsbruck (Folien und Tonmitschnitt verfügbar):
https://www.uibk.ac.at/medien/mwb2019/
 

Referenzen

Mohring, K., Brendel, N. (angenommen). Vom Ort zur virtuellen Welt – Studierende designen in Wien eine VR-Exkursion zu nachhaltiger Stadtentwicklung. In Hof, A. & Seckelmann, A. (Hrsg.) Exkursionsdidaktik in der Hochschullehre. Springer.

Brendel, N., Mohring, K. (im Review). Virtual-Reality-Exkursionen im Geographiestudium – neue Blicke auf Virtualität und Raum. MWB 2019 Proceedings.

Slater, Mel (2009): Place illusion and plausibility can lead to realistic behaviour in immersive virtual environments. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 364 (1535), S. 3549–3557.

Segbers, Teresa & Detlef Kanwischer (2015): Ethnographie als Methodologie in der Geographiedidaktik – Teilnehmende Beobachtung und Tagebuchanalyse im Kontext exkursionsdidaktischer Forschung. In: Alexandra Budke & Miriam Kuckuck (Hrsg.): Geographiedidaktische Forschungsmethoden. Berlin: Lit Verlag, S. 295 – 317.

Dodge, Martin; McDerby, Mary & Turner, Martin (2008): The Power of Geographical Visualizations. In: Geographic Visualization. Chichester, UK: John Wiley & Sons, Ltd, S. 1–10.

Maister, Lara, Mel Slater, Maria V. Sanchez-Vives, und Manos Tsakiris. 2015. Changing bodies changes minds: owning another body affects social cognition. Trends in cognitive sciences 19 (1): 6–12. doi: 10.1016/j.tics.2014.11.001.
 

Kontaktdaten

Dr. Katharina Mohring, kmohring@uni-potsdam.de
Prof. Dr. Nina Brendel, ninabrendel@uni-potsdam.de

Universität Potsdam
Institut für Umweltwissenschaften und Geographie
Karl-Liebknecht-Strasse 24/25
14476 Potsdam